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Kleine Leseproben

Aus: „Marthas Retreat“ Kurztext, in Cahier d’art, eu-art-symposium 2024

[…] Martha ist so vorhersehbar erschöpft. Sie hat laufend eine Krise oder mehrere. Sie bewältigt ihre Krisen, indem sie in sich geht, bevor sie außer sich gerät. Beinah jedes Wochenende zieht sie sich in ihr Inneres zurück. Sie fastet heil und trommelt sich in ihr Egozentrum. Sie entgiftet ihre Leber und spült ihren Darm, um in ihrem Inneren mehr Platz für sich selbst zu schaffen. Marthas Innenräume müssen von Martha genauestens beschaut, entrümpelt, tiefengereinigt und neu designt werden. Marthas Ich-Entwicklung ist ein raumfordernder Prozess.

Sie sagt, sie habe Rhythmusstörungen. Das System hätte sie aus dem Takt gebracht. Beinah jedes Wochenende braucht sie eine Auszeit vom System und von den Anstrengungen, den Martha-Takt zu halten, der ja genau genommen taktlos ist. Martha taktet sich von Auszeit zu Auszeit. 
 
In ihren Auszeiten fällt Martha aus der Zeit. Im Rückwärtsgang, den Blick auf mögliche Angreifer gerichtet, zieht sie sich in ein Rückzugsreservat zurück. Sie bucht das Hier und Jetzt wie andere eine Busreise. Im Supermarkt der Bedürfnisse ist die Antwort auf die Sinnfrage ebenso käuflich wie das Innehalten, das Atmen und die Nächtigung im Zirbenbett.

Am Eingang des Rückzugstempels gibt Martha sich ab wie eine Novizin ihre Haarpracht. Sie lässt sich ölen, räuchern, ernähren, anschweigen, massieren, aromatisieren. Sie muss die Auszeit gewinnbringend investieren. Sie will den Transformationswettbewerb gewinnen. Leistung muss sich lohnen: Wer sich dem Diktat der Rückzugscoachinnen und -coachs fragenlos gebeugt hat, wer am fleißigsten meditiert und sich kasteit hat, wer die besten Erfahrungen gemacht und am schnellsten die größte Erfüllung gefunden hat, der wird in kollektiver Liebe baden.

Das könnte sie doch billiger haben, denke ich. Sie könnte doch einfach ein Luftbad, ein Sonnenbad, ein Waldbad, was weiß ich für ein Seelenbad in freier Wildbahn nehmen. Das stelle ich mir eigentlich ganz gut vor, geradezu bereichernd, irgendwo eine Zeitlang im Nirwana hocken, auf einer Kokosnussinsel im Pazifik oder in einer harzigen Hütte mit Plumpsklo neben den Rindviechern auf der Alm und sich das Leben mit romantischer Ironie von außen anschauen. Die Gehirnströme unreguliert fließen lassen. Nutzlos sein. Faul sein. Mensch sein.[…]